Fortsetzung von
„Unter den Reben“

Als ich vor zwei Tagen alle Informationen preisgab, wurde ich direkt in Gewahrsam genommen. Daraufhin habe ich meinen Anwalt, Dr. Karl Kramp, in Kenntnis gesetzt. Es war das Vernünftigste, was ich tun konnte, um die Schärfe der Situation abzumildern. Dr. Kramp sah dies genauso.
In der Untersuchungshaft befand ich mich in einer engen Zelle, die temporär mein Zuhause wurde, während ich sehnsüchtig auf die Festnahme meines Bruders wartete. Seine Aussagen oder die von Zeugen waren entscheidend, um ihn zu überführen. Andernfalls lag es an mir, durch stichhaltige Beweise meiner Abwesenheit am Tatort die Justiz von meiner Unschuld zu überzeugen. Die genaue Bestimmung des Tatzeitpunkts blieb jedoch unklar, was das Vorlegen eines Alibis erheblich erschwerte.
Die Beamten durchsuchten Bennis Grundstück und seine üblichen Aufenthaltsorte. Doch mein Bruder hielt sich versteckt. Mehr und mehr hatte ich Angst, dass er es geschafft hatte, mir den Mord anzuhängen. Oder war es Totschlag? Ich wusste es nicht. Was ich wusste, war, dass mir Jahre im Gefängnis bevorstanden.
Mit jeder Stunde steigerten sich meine Selbstvorwürfe, mein schlechtes Gewissen meiner Mutter gegenüber und auch die Wut auf Benni und Caro. Wie lange hatten sie das geplant? Seit wann hinterging Caro mich? Hatte ich mir etwas zu Schulden kommen lassen, außer den Ausrutscher am Weinfest? Die Wahrheit lautete: Strenggenommen ja. Ich hatte Caro in den letzten Jahren mehrmals mit kurzweiligen Affären betrogen. Allerdings war es fast unmöglich, das herauszufinden.

Als ich am dritten Tag in der Würzburger JVA Besuch bekam, freute ich mich mehr denn je, Herrn Fromm und Frau Braun zu sehen.
„Hallo Herr Holzner. Es gibt neue Entwicklungen, über die wir gern mit Ihnen sprechen möchten. Ihr Anwalt hat seine Hausaufgaben gemacht – er wird in wenigen Minuten hier sein. Ebenfalls der Staatsanwalt. Ein Vertreter der polnischen Familie, die ihren Angehörigen vermisst, ist bereits gestern angereist.“
Die Aufzählung ließ mich erstarren. In meiner Zelle spielte ich ständig das Szenario durch, wie es weiterginge. Dass die Angehörigen des Polens informiert werden würden, fand nicht den Weg in meine Gedanken. Aber natürlich lag es auf der Hand; hier ging es immer noch um einen Menschen, dessen Verschwinden geklärt wurde. Ich war nur Nebendarsteller.

„Nehmen Sie bitte Platz“, forderte mich Frau Braun auf. Der Vernehmungsraum der JVA Würzburg war heller gestaltet und somit nicht ganz so furchteinflößend wie der in Kitzingen. Mir wurde ein Glas Wasser angeboten und die Handschellen abgenommen. Anschließend warteten wir schweigend auf den Staatsanwalt. Mein Beistand, Dr. Kramp, war zwischenzeitlich angereist. Ich sehnte mich danach, mit ihm in Ruhe zu sprechen und den neuesten Ermittlungsstand zu bewerten. Doch das musste bis nach der Vernehmung warten. Mit einem Klimpern und kurzem Poltern wurde die Tür zu unserem Raum geöffnet. Der Staatsanwalt schritt im dunklen Anzug herein und schloss leise, aber bestimmt die Tür hinter sich. Er schien sich in den Räumlichkeiten auszukennen und strahlte eine hohe Auffassungsgabe aus. Herr Pozniak, wie er sich mir vorstellte, schritt daraufhin auf die Polizisten zu und schüttelte ihnen lächelnd die Hand. 

„Herr Holzner, ich möchte Sie nach den eben erledigten Formalitäten über den Ermittlungsstand aufklären. Zwischendurch werden wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Ich freue mich auf ihre Kooperation. Und muss auch einmal Ihre Mitarbeit loben“, begann Herr Fromm den Hauptteil unserer Versammlung.
„Danke“, sagte ich und unterdrückte ein mutloses Schnauben.
„Wir haben Ihr Wohnhaus, Ihre Werkstatt und Ihren Bagger durchsucht. Was denken Sie, haben wir an Beweismaterial sichern können?“, fragte Frau Braun.
Beweismaterial auf meinem Grundstück? Schoss es mir durch den Kopf.
„Keines. Ich habe nichts mit dem Mord zu tun. Das war mein Bruder. Ich habe die Leiche ausgegraben und in der Truhe verwahrt. Mehr nicht“, sagte ich zum gefühlt hundertsten Mal.
„Wir haben eine blutverschmierte Taschenlampe gefunden. Die Tatwaffe, wie Sie uns Ihr Wissen mitgeteilt haben. Wie hat diese den Weg in Ihre Werkstatt gefunden?“
Mir gefror das Blut in den Adern. Benni hatte die Taschenlampe nicht einmal saubergemacht und verräumt? Ein Schweigen machte sich im Raum breit. Ich fand meine Stimme wieder, die sich nun brüchig anhörte:
„Er scheint es von langer Hand geplant zu haben…“
„Wie bitte?“, entgegnete Frau Braun.
„Mein Bruder… er hat mir damals schon die Taschenlampe untergejubelt. Er hatte damals schon vor, mir den Mord anzuhängen“, sprach ich das Unglaubliche aus. Ich vermutete gleichzeitig, dass er meine DNA mit Caros Hilfe darauf platziert hat.
„Sie wussten also schon seit dem Mord von dem Vorfall?“
„Nein. Ich weiß seit unserem Gespräch vor einer Woche davon.“
Manchmal hatte ich das Gefühl, Frau Braun wollte mich mit Absicht falschverstehen.
Sie machte sich Notizen auf ihren Unterlagen. Der Staatsanwalt verzog keine Miene. Der Blick meines Anwalts ließ auf leichten Schock schließen. Entweder aufgrund der Dreistigkeit meines Angehörigen oder wegen Frau Brauns Versuch, mir zurückgehaltene Informationen zu entlocken.
„Wegen Ihres Grabungsgewerbes haben Sie Firmenpullover anfertigen lassen. Ist das richtig?“, fragte Herr Fromm plötzlich.
Überrascht über den Themenwechsel stammelte ich: „Ja, mit meinem Logo hinten drauf. Ich habe Freunden einen geschenkt und selbst ungefähr 10 Stück behalten.“
„Wir haben einen davon mit Blutspuren in Ihrer Werkstatt gefunden.“
Benni, dieses Arschloch.
„Ja, das wird auch Benni gewesen sein. Oder Caro. Die beiden haben Zugang zu meiner Werkstatt. Haben Sie auch etwas in meinem Haus gefunden?“
Wie hinterhältig waren die beiden wirklich?
„Sollten wir?“, fragte Herr Fromm, ohne meine Frage zu beantworten.
Ich schüttelte vehement den Kopf.
„Nein.“
„Das untersuchte Blut gehört zum Opfer. Die Beweise sind belastend, Herr Holzner. Ihr Bruder ist weiterhin untergetaucht und Ihre Exfreundin belastet Sie. Wissen Sie noch etwas, was uns oder vielmehr Ihnen helfen könnte?“, wollte der Polizist wissen. Er schien an meine Unschuld, was den Mord angeht, zu glauben.
„Eigentlich nicht. Ich kann nur nicht fassen, wie eiskalt die beiden sind…“, machte ich mein Entsetzen deutlich und sah zu Boden. Also hatte sie doch von meinen Seitensprüngen erfahren und wollte sich an mir rächen.
Ich ging noch einmal in mich und erinnerte die Unterhaltung, mit der alles begann. Die Augen des Staatsanwalts und meines Verteidigers lasteten auf mir.
„Doch!“, fiel es mir plötzlich ein, „Benni sagte etwas von einem Nachbarn, der ihn mit der Schubkarre gesehen hätte. Vielleicht kann der weiterhelfen! Der war draußen zum Rauchen.“
Ein Hoffnungsschimmer, sollte es diesen Zeugen wirklich geben. Frau Braun schien weniger euphorisch:
„Das werden wir tun. Sie kennen den Namen?“
Ich verneinte die Frage. Die Kommissarin machte sich erneut Notizen. Mit jedem Wortwechsel wurde sie mir unsympathischer.
„Kommen wir nun zu den Mikrospuren. Es wurde Ihre DNA am Leichnam und an der Tatwaffe gefunden. Wie erklären Sie sich das?“
„Das kann nicht sein. Ich habe den Körper nicht einmal gesehen! Sie müssen unbedingt Benni finden, der hat dafür gesorgt, dass es so aussieht, als wäre ich der Schuldige! Oder nehmen Sie Caro in die Mangel, die weiß mehr, als sie zugibt!“
„Nunja, Sie haben bereits das Ausgraben gestanden. Strafbar haben Sie sich in diesem Maße schon gemacht“, erinnerte mich die Polizistin.
„Was sagt denn Caro zu den Vorwürfen?“, wollte ich wissen. Vielleicht könnte man sie der Lüge überführen, wenn sie länger verhört würde.
„Sie belastet Sie. Frau Stemper berichtet von häuslicher Gewalt und anderen, sagen wir, Disharmonien in Ihrer Beziehung. Sie traue Ihnen den Mord zu und hatte wohl eine Vermutung. Diese habe Sie aus Angst vor Ihnen nicht angesprochen. Aus dem gleichen Grund sei sie nicht zur Polizei gegangen.“
„Wie bitte? Sie hat mir noch geholfen, die Leiche in die Kühltruhe zu bugsieren!“
„Die Spuren Ihrer Exfreundin konnten wir nicht am Leichnam feststellen.“
Es war wie ein schlechter Scherz. War die Lage wirklich so auswegslos?
Dr. Kramp mischte sich ein: „Die Vermisstenmeldung wurde erst eine Woche, nachdem das Opfer zuletzt gesehen wurde, aufgegeben. Falls ein Zeuge gefunden wird und den genauen Tatzeitpunkt nennen kann, könnte Herr Holzner ein mögliches Alibi vorweisen. Derzeit ist die Zeitspanne, in die die Tat fällt, zu weit gehalten…“
Er richte sich bei diesen Worten auf und wirkte sofort einige Zentimeter größer, als er in Wirklichkeit war. „Das sehe ich als reale Chance an, meinen Mandanten diesbezüglich zu entlasten. Ist das korrekt, Herr Hauptkommissar Fromm?“
„Das ist korrekt. An diese Chance würde ich mich heften, Herr Holzner“, sagte er zu mir gewandt.
Erneut machte sich mein Magen bemerkbar. Ich erwiderte nichts, sondern warf einen Blick zu Herrn Pozniak, dem Staatsanwalt. Er nahm den Raum, trotz der Rolle eines Zuhörers, ein. Dann sprach er: „Denken Sie daran, dass Ihre Kooperation den Unterschied zwischen einer lebenslangen Haftstrafe und einer reduzierten Strafe bedeuten kann. Falls Sie noch uns noch etwas mitteilen wollen, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt.“
Der Druck war ungeheuerlich. Ich wünschte, ich könnte noch etwas sagen. Aber ich musste schweigen.
Die Vernehmung wurde beendet. Mein Anwalt und ich blieben zurück und sprachen über die verbliebenen Möglichkeiten, mich aus der misslichen Lage zu befreien. Schnell stellte sich heraus, dass auch das Auffinden meines Bruders keine Rettung bedeuten würde: Wenn er schwieg oder sogar mich belastete, wären meine Jahre hinter Gittern sicherer denn je. Wir konzentrierten uns darauf, mögliche Zeugen zu finden und zu hoffen, dass ich ein Alibi vorweisen konnte. In der Zeit des Mordes war ich bereits nicht mehr bei meinem alten Arbeitgeber und verbrachte viel Zeit im Büro bei mir zuhause. Deswegen bestand meine Aufgabe in den nächsten Tagen darin, alle Termine und Orte aufzuschreiben, die ich in der ersten Maiwoche besucht hatte. Dafür galt es dann Zeugen zu finden. Mein Anwalt – oder Karl, wie ich ihn fortan nennen durfte – würde bei der Polizei Druck machen und die Nachbarn des Grundstücks aufsuchen lassen. Wenn wir eine Überschneidung fänden, könnte mich diese zumindest teilweise entlasten. Missmutig verabschiedete ich meinen Rechtsbeistand und ließ mich zurück zu meiner Zelle bringen.

Bereits am nächsten Tag betrat Karl erneut die JVA. Er überbrachte mir die ernüchternde Nachricht, dass das Haus, in dem der mögliche Zeuge wohnte, mit Ferienwohnungen ausgestattet war.
Ich schlug die Hände über den Kopf zusammen. Nordheim bot seinen Gästen zahlreiche Ferienwohnungen und ganze Häuser, damit das Dorfleben hautnah erfahren werden konnte. Gerade bei Winzern sind Gästestuben sehr beliebt.
„Mark, wir tun alles, um die Wahrheit auf den Tisch zu bringen“, ermutigte Karl mich, als er mir im Besucherraum gegenübersaß und ich ihm meine Aufzeichnungen der ersten Maiwoche rüberschob. Auch er sah angespannt aus. Er trug ein dunkles Hemd und eine helle Stoffhose, die seinen Beruf nicht verrieten. Doch nicht nur seine Kleidung wirkte auf mich sympathisch. Seit Beginn meines Auftrages hielt er sich an sein Wort und glaubte fest an meine teilweise Unschuld. Mit den Aufzeichnungen in der Hand begann er, zaghaft zu lächeln.
Er zögerte einen Moment und bemerkte meinen fragenden Blick. „Danke. Die sehen sehr detailliert aus. Es gibt außerdem Neuigkeiten. Ich habe heute Morgen erfahren, dass Benni gefasst wurde.“
„Oh mein Gott, was sagt er?“
Ich richtete mich auf dem harten Holzstuhl auf.
„Das, was ich weiß, bestätigt unsere Vermutung. Er belastet dich. Einzelheiten durfte ich noch nicht erfahren.“
„Ich hätte nie gedacht, dass er so übel drauf ist. Klar, hier und da was Illegales. Aber unsere Familie auf diese Art zu zerstören?“
„So ein Fall ist mir auch noch nicht untergekommen.“
„Was bedeutet es, wenn er mich nun belastet?“
„Die Polizei wird in alle Richtungen ermitteln. Ich kann dir nicht sagen, wie sie die Beweise auslegen. Immerhin entwerfen diese ein widersprüchliches Bild. Wenn er alles sauber angestellt hat, werden Aussagen und Beweise für deine Schuld sprechen. Was für ein Motiv könnte er haben?“
„Scheiße. Ich kann nur vermuten, dass es um das Erbe unserer Eltern geht. Wenn er mich aus dem Weg hätte, bliebe mehr für ihn übrig.“
„Erbschaft ist ein häufiger Streitpunkt. So gesehen kannst du froh sein, dass du nicht dran glauben musstest“, erwiderte Karl und zuckte mit den Achseln. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Er hatte Recht; Benni ging offensichtlich über Leichen.
Mein bärtiger Fürsprecher fügte hinzu: „Die Polizei arbeitet derzeit mit Hochdruck an eurem Fall… Die Zeitungen haben diesen ebenfalls aufgegriffen. Vorhin, als ich bei der Fundstelle war, standen Leute am Grundstück und drängten sich an die Absperrung, um zu gaffen. Der Aufruhr bei den Nordheimern und den Touristen ist so groß, dass die Polizei die ganze Straße absperrt.“
„Dann bleibt also nur abwarten übrig?“, wollte ich das weitere Vorgehen wissen.
„So sieht es aus.“
Karl und ich verabschiedeten uns mit einem Händedruck, den ich nur mit Mühe kräftig zurückgeben konnte.

Die Tage in der Zelle zogen sich endlos hin, jeder Tag glich dem anderen – ein stetiges Warten, Hoffen, Bangen. Als mein Anwalt eine Woche später wieder in die JVA Würzburg kam, trug sein Gesicht einen Ausdruck, der mir sofort auffiel. Er war vorsichtig optimistisch, doch in seinen Augen lag eine Spur von Erschöpfung, die von einer langen, anstrengenden Suche zeugte.
„Es gibt gute Nachrichten“, begann er und setzte sich mir gegenüber. Sein Lächeln war gequält, als wären die Worte, die er sprach, hart erkämpft. „Sie hatten Schwierigkeiten, den rauchenden Nachbarn zu finden. Du erinnerst dich, der mögliche Zeuge, den Benni erwähnt hatte?“
Natürlich erinnerte ich mich.
Ich nickte, meine Hoffnung hing an jedem seiner Worte.
„Das Haus, von dem Benni sprach, war in der Woche voll mit Feriengästen. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Es war kompliziert, aber die Polizei hat schließlich eine Liste aller Gäste erstellt, die in der fraglichen Nacht dort waren.“
Karl machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Wasser. „Es war wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Jeder einzelne musste kontaktiert und befragt werden. Einige Gäste konnten sich kaum an den spezifischen Abend erinnern, geschweige denn an eine Person mit einer Schubkarre.“
Sein Blick senkte sich kurz, bevor er fortfuhr. Dennoch flammte Erregung in mir auf: Kam meine Erlösung? Mein Verteidiger machte es spannend.
„Aber letztendlich haben sie ihn vor einigen Tagen gefunden. Einen Mann, der sich genau erinnert. Er war draußen, um zu rauchen, und konnte das exakte Datum und die Uhrzeit nennen. Es war gegen 1:10 Uhr am dritten Mai.“
Karl sah mich direkt an, seine grünen Augen suchten die meinen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. „1:10 Uhr am dritten Mai?“, wiederholte ich leise. Das war der Schlüssel. Es war der Hochzeitstag meiner Eltern und ich erinnerte mich auch ohne meine Alibiliste an die Ironie an diesem Abend. „Das Date… ich habe Caro betrogen. Direkt nachdem ich meinen Eltern per Textnachricht zum Hochzeitstag gratuliert hatte“, wiederholte ich, während ein Gefühl der Scham durch meinen Körper strömte. Karl nickte bestätigend, seine Augen strahlten eine Mischung aus Erleichterung und Stolz aus.
„Wer hätte gedacht, dass das Motiv deiner Exfreundin gleichzeitig dein Alibi sein würde“, schmunzelte er vor sich hin. „Die Dame, die du besucht hast, bestätigt, dass du zu diesem Zeitpunkt bei eurer Verabredung warst. Sie hat sogar ein Video ihrer Überwachungskamera an der Haustür, um das zu belegen. Deine Unschuld am Mord steht außer Frage. Die Polizei hat ihre Ermittlungen nun neu ausgerichtet.“ Karl lehnte sich nach diesem Satz zurück und atmete tief durch.
„Bist du dir ganz sicher?“
„Definitiv. Der Zeuge war so verwundert, dass er seine Beobachtung in einem Notizbuch vermerkt hat. Außerdem waren auch Herr Fromm und Frau Braun sehr akribisch; ihre Akten konnte ich zügig und ohne Fragen einsehen.“
Ich spürte, wie mir ein schwerer Stein vom Herzen fiel.
„Und was bedeutet das nun für Benni?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort fast kannte. Ich konnte mein Mitleid für ihn nicht unterdrücken, auch wenn es irrational war.
Karl lehnte sich vor, was mir zeigte, wie ernst die Lage war.
„Als sie den besagten Zeugen fanden, änderte sich der Fokus der Ermittlungen dramatisch. Die Polizei beschäftigt sich derzeit intensiv mit Benni und hat schon jetzt entscheidende Beweise gefunden. Er scheint auch in andere Straftaten verwickelt zu sein.“
„Was für Beweise?“, fragte ich. Mein Puls beschleunigte sich bei dem Gedanken an das, was nun auf meinen Bruder zukommen könnte.
„Zunächst haben sie die Taschenlampe gründlicher untersucht. Benni hat vergessen, seine Fingerabdrücke auf den Batterien zu entfernen. Aber das war erst der Anfang“, erklärte Karl.
„Weiter?“, drängte ich
„Es gab Inkonsistenzen in seinen Aussagen. Sie haben kürzlich Videomaterial von einer Überwachungskamera der Genossenschaft eingesehen. Doch auf den Aufnahmen bist nicht du zu sehen, wie die liebe Frau Braun zunächst vermutete, sondern Benni. Dieser hat aber behauptet, geschlafen zu haben.“
Karl machte eine Pause. Ich ließ die Informationen auf mich wirken und erinnerte mich an die Beweislast gegen meine Person.
„Und seine DNA, hat er die irgendwo hinterlassen?“
„Das war der ausschlaggebende Punkt. Bennis genetischer Fingerabdruck wurde an Orten gefunden, die er in seiner Version der Geschehnisse nicht erklären kann. Zum Beispiel an der Innenseite der Plane, worin die Leiche gewickelt war. Auch hat die Spurensicherung den Eingang seiner Werkstatt unter die Lupe genommen und Blutspuren gefunden. Es war, als hätte er versucht, die Spritzer zu entfernen, aber er war nicht gründlich genug.“
Ich saß da, unfähig, die Tragweite dessen, was Karl sagte, vollständig zu erfassen. Mein Bruder, der Mann, mit dem ich aufgewachsen war, spielte ein so gefährliches und tödliches Spiel. Und ich war fast sein Opfer geworden.
„Was passiert jetzt mit ihm?“
Trotz seiner Intrigen spürte ich Besorgnis in mir.
„Benni wird wegen Mordes angeklagt. Die Beweise sind eindeutig. Sein Versuch, dir die Tat anzuhängen, ist gescheitert. Jetzt muss er sich seiner Verantwortung stellen.“

Das Gespräch drehte sich noch eine Weile um die technischen Aspekte des Falls, aber meine Gedanken waren woanders. Ich dachte an Benni, an unsere Kindheit, an die vielen Momente, die wir geteilt hatten. Und jetzt das. Es war, als hätte ich meinen Bruder nie wirklich gekannt.

Kurz vor unserer Verabschiedung äußerte mein Anwalt: „Es gibt noch eine Sache.“
Er sah mich direkt an. „Das Ausgraben der Leiche. Du hast gestanden, sie ausgehoben und in der Kühltruhe verwahrt zu haben. Das ist eine Straftat.“
Mir wurde klar, dass ich trotz meiner Unschuld am Mord nicht völlig frei von rechtlichen Konsequenzen sein würde.
„Was erwartet mich?“
„Wir werden darauf hinarbeiten, dass deine Rolle als unwissentliches Opfer von Bennis Manipulationen anerkannt wird. Deine Kooperation mit der Polizei und die Tatsache, dass du unter seinem Druck gehandelt hast, werden dabei eine Rolle spielen. Aber es wird ein Verfahren geben. Du musst dich darauf vorbereiten.“

Die nächsten Tage in der Zelle waren eine Mischung aus Erleichterung und Angst vor dem, was kommen würde. Als der Tag meines Verfahrens schließlich kam, fühlte ich mich wie in einem Traum. Karl war an meiner Seite, als wir das Gerichtsgebäude betraten.

Der Prozess, der über meine Zukunft entscheiden sollte, begann in einer angespannten Atmosphäre. Mein Anwalt verteidigte mich mit aller ihm zur Verfügung stehenden Fachkompetenz. Er malte das Bild eines Mannes, der unter dem enormen Druck eines manipulativen, geldgierigen Bruders stand, der ihn in seine finsteren Machenschaften hineingezogen hatte.
Doch Staatsanwalt Pozniak, der Mann mit eisiger Miene und scharfen Blicken, ließ kein Mitgefühl für meine Situation erkennen. Er präsentierte mich als jemanden, der trotz des Drucks von außen die Wahl gehabt hätte, anders zu handeln. Jedes meiner Argumente schien an ihm abzuprallen wie Regentropfen an einer Fensterscheibe.

Als das Urteil verkündet wurde, war es strenger als ich gehofft hatte, aber milder, als es hätte sein können. Ich erhielt eine Bewährungsstrafe und die Auflage zu gemeinnütziger Arbeit. Ein Preis, den ich zu zahlen hatte – nicht nur für meine Naivität, sondern auch für die fehlende Standhaftigkeit gegenüber meines Bruders.

Mit gemischten Gefühlen verließ ich das Gerichtsgebäude. Die Freiheit, die mir zurückgegeben wurde, fühlte sich bittersüß an. Abgesehen von der Nachbarschaft, dessen Vertrauen ich zurückgewinnen wollte, gab es etwas Dringendes, das ich tun musste – ich musste mit meinen Eltern sprechen. Der Gedanke daran, ihnen gegenüberzutreten, erfüllte mich mit Scham und Schmerz. Ich musste ihnen gegenüber alles erklären, ihre Fragen beantworten und ihnen Beistehen.